20. Jahrgang Nr. 1 / Juli 2001

Bericht über die FA-Tagung 2001

Vom 24. bis 27. Mai 2001 fand im Anny-Lang-Haus in Wiesbaden die Jahrestagung 2001 der FREIEN AKADEMIE unter dem Generalthema "Staat und Kirche im werdenden Europa - Nationale Unterschiede und Gemeinsamkeiten" statt.

Die wissenschaftlichen Tagungsleiter Dr. Dieter FAUTH und Erich SATTER ( links) widmeten sich

diesem Thema mit Hilfe von neun Referenten; auf der Tagung waren insgesamt 50 Personen anwesend.
Am Donnerstag-Abend (24. Mai) begrüßte Präsident Prof. Dr.- Ing. Jörg ALBERTZ die Tagungsteilnehmer, führte Dr. Fauth in die Thematik der Tagung ein und hielt

der Germanist Prof. Dr. Wilhelm KÜHLMANN das erste Referat, das sich mit "Staat und Kirche in der Literatur religiöser Dissidenten" befaßte. Prof. Kühlmann machte die Teilnehmer in einer detailreichen Darstellung mit den

wichtigsten christlichen Dissidenten in Deutschland aus der Zeit vom Anfang
des 16. Jh. bis zur Mitte des 18. Jh. bekannt.- Sebastian Franck (1499-1542)
trat für eine freie, undogmatische und überkonfessionelle christliche
Frömmigkeit ein; er sprach sich gegen Standesunterschiede, Krieg,
Judenverfolgung und staatliche Willkür aus. - Johann Valentin Andreä (1586-
1654) und sein Tübinger Freundeskreis gelten als die Gründer der Geheimgesellschaft "Die wahren

Rosencreutzer", die eine "General-Reformation" des christlichen Glaubens, der Kirche, des Staates und der Gesellschaft anstrebte. Eine Zeitlang erschien eine Akademie der europäischen Gebildeten guten Willens möglich. Nach Verfolgung glitten die Reste der Rosenkreuzer ins Freimaurerische und Esoterische ab. - Quirinus Kuhlmann (1651-1689) versuchte als religiöser Schwärmer den Papst, den Sultan von Istanbul und den Moskauer Zaren für die Idee eines christlichen Weltreichs zu gewinnen; er endete auf Betreiben des Moskauer Patriarchen als Ketzer auf dem Scheiterhaufen.- Der liberale lutherische Theologe Gottfried Arnold (1666-1714) gab eine "Unparteiische Kirchen und Ketzerhistorie" (1699) heraus, wonach die Ketzer und Mystiker die wahren Christen sind. - Über den pietistischen Theologen Friedrich Breckling (1629-1711), den Naturrechtler Christian Thomasius (1655-1728)

und den Philosophen Hermann Samuel Reimarus (1694-1768) führt eine Verbindungslinie zu Lessing und zum jungen Goethe.- Der Chiliasmus (Lehre von der 1000jährigen Herrschaft Christi auf Erden vor dem Jüngsten Gericht; Johannes-Offenbarung 20,1-10) bildete die Grundlage für die Kritik der genannten Dissidenten an Kirche und Staat. Es handelte sich erstmals um Kritik aus der Verantwortung für den Nächsten ohne Legitimation durch ein Kirchen- oder Staatsamt.

Der Freitag (25. Mai) begann mit dem Referat "Vom deutschen Staatskirchenrecht zum europäischen Religions(verfassungs)recht"des wissenschaftlichen Mitarbeiters an der Fernuniversität Hagen, Hans Michael HEINIG , der zunächst die Prinzipien des deutschen
Staatskirchenrechts (Freiheit, Gleichheit, Bestandsschutz) darlegte und sich

anschließend mit dem europäischen Religionsverfassungsrecht befaßte.
Während die Europäische Union (EU) die Religionsfreiheit des Einzelnen
gemeinschaftsrechtlich garantiert (Artikel 6 Absatz 1 und 2 EU-Vertrag in
Verbindung mit Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention
(EMRK)), ist das Religionsverfassungsrecht - insbesondere das Recht auf
korporative Religionsfreiheit - bisher Sache der EU-Mitgliedstaaten (vgl. die
Amsterdamer Kirchenerklärung von 1997). Bei einem Konflikt zwischen
individueller und korporativer Religionsfreiheit praktiziert die EU-Ebene
(Kommission und Gerichtshöfek) am Einzelfall orientierte Kompatibilisierungsregelungen. Hierfür kann in Zukunft die EU-
Grundrechts-Charta vom 7. Dezember 2000 Maßstäbe bieten. Das Subsidiaritätsprinzip, das man als Schutz der einzelstaatlichen Religionsverfassung denken könnte, hat keine religionsspezifische 1 Bedeutung.

Wahrscheinlich wird die Entwicklung in Richtung Kohäsion gehen: Rigide Trennungssysteme weichen sich auf; die Kirchen entstaatlichen sich.

Im zweiten Freitag-Vortrag äußerte sich der Kirchenrechtler und Soziologe Prof. Dr. Johannes NEUMANN zu "Staat und Kirche in europäischen Texten von Verfassungs- und Gesetzesrang " .- Prof. Neumann gab eingangs einen Überblick über die religionsverfassungsrechtlichen Strukturen der EU-

Staaten. Frankreich ist dem Laizismus verpflichtet (Anmerkung des Berichterstatters: Laizismus meint das Streben nach Laizität, dem Zustand strikter Trennung der staatlichen Sphäre von der kirchlichen bzw. religiösen Sphäre). Zu den in abgeschwächter Weise religiös und weltanschaulich neutralen Staaten gehören Belgien, Luxemburg, die Niederlande, Spanien und Portugal. Als staatskirchlich orientierte Staaten lassen sich u.a. Dänemark, Finnland, Italien und England bestimmen. Kirchenstaatshoheitlich organisiert sind Irland und Griechenland. Die Bundesrepublik Deutschland weist in ihrem Verfassungssystem einerseits religiöse und weltanschauliche Neutralität, andererseits bedenkliche Bestandschutzregelungen zugunsten der Kirchen auf.- Danach legte Prof. Neumann die wichtigsten einschlägigen europäischen Rechtstexte dar

(EMRK von 1950 mit Zusatzprotokollen; Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft - EG - von 1957, insbesondere geändert durch den Amsterdamer Vertrag von 1997; EU-Grundrechts-Charta von 2000).- Abschließend sprach sich Prof. Neumann dafür aus, daß auf der EU-Ebene im Interesse des Kampfes gegen fundamentalistische (z.B. bestimmte islamische) Tendenzen eine laizistische Verfassungsstruktur institutionalisiert wird.

Der Verfassungs- und Europarechtler Dr. Christian WALTER sprach am Donnerstag-Nachmittag zu dem Thema "Der Schutz religiöser Minderheiten im EG-Recht und nach der EMRK" . Dr. Walter legte die Religionsfreiheit, den Minderheitenschutz und den Grundsatz der Nichtdiskriminierung im EG- Recht dar. Er klärte die Rechte religiöser Minderheiten nach der EMRK, indem er den Minderheitenschutz durch Bezugnahme auf Einzelfälle, die von EU-Gremien entschieden worden waren, behandelte. Stichworte hierfür sind der Geltungsbereich der von der Mehrheitsreligion abweichenden religiösen Überzeugungen ('griechische Zeugen Jehovas'), der Freiraum des Einzelnen innerhalbeiner ReligionsgemeinschaftundderVorteildurchZurückhaltung bei der behördlichen Definition von Religion.

Der Rest des Freitags gehörte der Diskussionsarbeit in drei Gruppen und der Ergebnisses dieser Arbeit im Plenum.

Präsentation des

Der Sonnabend (26. Mai) fing an mit dem Referat des sächsischen evangelischen Pfarrers Dr. Christoph KÖRNER über die "Finanzierung von Kirchen - Chancen und Probleme verschiedener Modelle" . Dr. Körner bejahte die laizistische Struktur der EU-Grundrechts-Charta und beurteilte zunächst drei europäische Kirchenfinanzierungsmodelle. Der in Deutschland praktizierte staatliche Kirchensteuereinzug steckt - entgegen den Stellungnahmen der Amtskirchen - in der Krise, weil seine Akzeptanz abnimmt und das so gewonnene Steueraufkommen sinkt; er ist auch mit der EU-Grundrechts-Charta schwer vereinbar. Die deutschen Großkirchen stehen eigentlich in der Pflicht, alternative Finanzierungsmodelle zu realisieren. Die in Italien und Spanien etablierte Kultur- und Sozialsteuer mit Wahlmöglichkeit des Steuerpflichtigen begegnet ebenfalls Bedenken, weil

der Staat hier die Kirche alimentiert. Die für Frankreich und die Niederlande typische Kirchenfinanzierung durch Spendenakquisition entspricht dem Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche, ist aber zum Teil dem Vorwurf unseriöser Geldeintreibung ("fund-raising") ausgesetzt; eine Schulung der Geldeintreiber erscheint dringlich.- Im letzten Teil seines Referats forderte Dr. Körner als zweiter Vorsitzender des Vereins "Christen für gerechte Wirtschaftsordnung" (CGW e.V.) ein gerechtes Geldwesen insbesondere mittels Abschaffung der leistungslosen Geldvermehrung (Zinseszins).

 

In diesem Zusammenhangplädierte er für dezentrale Projekte, solange die Einzelstaaten, die EU und die UNO die erforderliche Geldreform nicht in Angriff nehmen.

Dr. Andreas RAUCH, wissenschaftlicher Mitarbeiter einer CDU- Bundestagsabgeordneten, sprach anschließend zum Thema "Staat und Kirchen im Sozialbereich - Konzepte in Europa" . In den EU-Mitgliedstaaten besteht ein divergierender Status der Wohlfahrtspflege. Für die Leistungen der Daseinsvorsorge sollte laut Dr. Rauch ein Sonderrechtsstatus in der europäischen Wirtschaftsordnung (Herauslösung aus dem EU- Wettbewerbsrecht) geschaffen werden, um bestehende Sozialleistungen - z.B. von Caritas und Diakonie - aufrechtzuerhalten. Entscheidungen von EU- Gremien zum europäischen Sozialbereich liegen noch nicht in einem nennenswerten Umfang vor.

Der Sonnabend-Nachmittag begann mit dem

ReferatdesTheologen Prof.Dr.GerdLÜDEMANN zum Thema "Staat und Kirche im Hochschulwesen - Die Verhältnisse in Deutschland im Vergleich mit anderen europäischen Staaten" . Prof. Lüdemann legte eingangs den umstrittenen rechtlichen Bestandsschutz für theologische Fakultäten an deutschen staatlichen Hochschulen dar, wobei er insbesondere auf den Gegensatz zwischen Konfessionsbindung und Wissenschaftlichkeit hinwies. Danach beschäftigte sich Prof. Lüdemann kursorisch mit den einschlägigen Verhältnissen in Österreich, Finnland, Schweden, Norwegen und England. Abschließend berichtete er in nachvollziehbarer Emotionalität von seiner rechtlich schwierigen Stellung als Hochschulprofessor an der evangelischen theologischen Fakultät der

staatlichen Universität Göttingen, nachdem er sich 1998 öffentlich vom Christentum losgesagt hatte.

Das zweite Referat am Sonnabend-Nachmittag hielt der niederländische Religionshistoriker Dr. Alphons van DIJK zum Thema "Wissenschaft und Bildung frei von staatlicher Bevormundung und privatem Kommerz - Erfahrungen aus den Niederlanden". Dr. van Dijk machte die staatliche Finanzierungdesniederländischennichtstaatlichen Hochschulwesensnach dem Ende des "Compartiment-Systems" in den 1960er und 1970er Jahren anschaulich und berichtete von der Entwicklung der 1989 gegründeten nichtstaatlichen Universität für Humanistik in Utrecht, wo er als Hauptdozent tätig ist.

Der Sonnabend klang aus mit einem "Musischen

Abend". Die Pianistin Ekaterina Tarnopolskaja spielte Werke von Franz Schubert und Alexander Skrjabin. Die Zuhörer waren begeistert von dem leidenschaftlichen Elan und der technischen Perfektion

dieser musikalischen Darbietung.
Der Sonntag (27. Mai) brachte zunächst noch einen Vortrag. Der

Religionspädagoge Dr. Herbert SCHULTZE sprach
über das Thema "Religions- und Ethikunterricht an
öffentlichen Schulen im länderübergreifenden
Vergleich" . Hierbei hob er die neuere Entwicklung in
einigen Ländern (z.B. USA, Frankreich, Schweden)
hervor, wonach ein konfessionsfreier orientierender
Religions- und Ethikunterricht (Lebenskunde-
Unterricht bzw. Unterricht über Lebensgestaltung und Ethik) realisiert worden ist oder werden soll. In diesem Zusammenhang kritisierte er die Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland von 1994, welche die Frage "Sollte e i n Religions- und Ethikunterricht für a l l e Schüler eingeführt werden?" mit "Jein" beantwortete.

 

Den Schluß der Tagung bildete am Sonntag-Vormittag das Akademie-Forum.

Die Referenten Dr. Rauch, Dr. Körner, Dr. Schultze und Dr. van Dijk, eingerahmt von den wissenschaftlichen Tagungsleitern Dr. Fauth und Satter faßten unter der Leitung von Präsident Prof. Albertz (Mitte) in einer ersten Gesamteinschätzung die Ergebnisse der Tagung zusammen.

Im Schlußwort des Präsidenten galt die Danksagung u.a. der Technischen Tagungsleiterin Erika SATTER , die mit viel Engagement dafür gesorgt hat, daß der äußere Tagungsablauf planmäßig vonstatten gegangen ist. Das durchweg regenfreie Wetter mit viel Sonnenschein, das Morgensingen des -von der bewährten Inderfurth-Gitarre begleiteten- kleinen Akademie-Chores und die Gespräche abends "nach getaner Arbeit" im Restaurant des Anny-Lang-Hauses haben mit dazu beigetragen, daß die Tagung 2001 in Wiesbaden ein sehr eindrucksvolles Erlebnis genannt werden darf.

Reinald Eckhardt

R. KOCK: Die Laizität der französischen öffentlichen Primarschule

Die Religion hat ein Gesicht: le curé. Die Wissenschaft hat ein Gesicht: l ́instituteur. Diese beiden Figuren kennzeichnen die gesellschaftliche Situation in Frankreich zur Zeit der Dritten Republik (1870-1940). Überall finden Kleinkriege statt zwischen dem Curé: dem Pfarrer und seinem Erzwidersacher, dem Instituteur: dem Lehrer, als Vermittler des aufklärerisch – patriotischen Geistes und der Wissenschaft. In diese Zeit hinein fällt die Pädagogik des französischen Schulreformers Célestin Freinet (1896-1966). Ihr Entstehungsort ist die öffentliche laizistische Schule, die Ecole laïque .

Der Begriff Laizität und die Ecole laïque

Die Begriffe Laizität und Laizismus werden in Frankreich während der Auseinandersetzung um die geistige Gestalt der Dritten Republik geprägt. Ihre Wurzeln reichen zurück bis zur Französischen Revolution und zur Aufklärung und gründen im Bewußtsein vom Eigenwert und von der Autonomie der Welt in all ihren Bereichen (Säkularisierung/ Säkularismus), im Außerkraftsetzen des traditionellen christlich-religiösen Paradigmas.

Laizität betrifft das Verhältnis von Kirche und Staat und beinhaltet - lange Zeit geprägt durch eine positivistische Staats- und Religionstheorie - die grundsätzliche Neutralität des Staates allen Religionsgemeinschaften gegenüber. Der republikanische Grundsatz der Laizität des französischen Staates wird - in betontem Gegensatz zur Vichy-Gesetzgebung und zum pétainschen Klerikalismus - zum erstenmal in der Verfassung der Vierten Republik (27.10. 1946) verfassungsmäßig festgelegt und von der Verfassung der Fünften Republik (28.10. 1958) bestätigt.

 

Die Laizisierung des französischen Primarschulwesens erfolgt bereits durch die Primarschulgesetzgebung der Dritten Republik. Dabei wird die Primarschule in dreierlei Hinsicht laizisiert (1882 - 1886): Jeder religiöse Gehalt wird aus den Lehrplänen und aus den Unterrichtsinhalten entfernt (Laizität der Lehrpläne und des Unterrichts); Religionsunterricht innerhalb der staatlichen Schule ist untersagt (Laizität der Schule); Priester und Ordensangehörige sind als Lehrkräfte an staatlichen Schulen ausgeschlossen (Laizität des Lehrpersonals). Um die Möglichkeit religiöser Bildung der Schüler zu garantieren, fügt Artikel 2 des Gesetzes von 1882 hinzu, daß die staatlichen Primarschulen an e i n e m Werktag in der Woche den Unterricht aussetzen, damit die Kinder an diesem Tag außerhalb der Schule Religionsunterricht erhalten können. Zudem bleibt Religionsunterricht innerhalb der konfessionellen Primarschulen weiterhin möglich.

An die Stelle des Religionsunterrichts setzt die Schulgesetzgebung der Dritten Republik einen allgemeinen Moralunterricht nach staatlicher Maßgabe, der bis 1923 noch am Gottesglauben festhält. Das Konfessionelle wird in das allgemein Christliche aufgehoben, das als natürliche Religion bzw. Vernunftreligion interpretiert wird und die alle Menschen bestimmenden Wahrheiten wie Gott, Unsterblichkeit, Freiheit oder Glück artikuliert. Die Schulreformer stützen sich dabei auf Kant, der Gott als Moralprinzip radikal verinnerlicht und zur Folgeerscheinung menschlicher Autonomie erklärt. Die beiden weiteren Errungenschaften der Schulreform der Dritten Republik sind neben der Laizität die Schulgeldfreiheit (1881) und die Schulpflicht für alle Kinder vom sechsten bis dreizehnten Lebensjahr (1882).

Die öffentliche Primarschule, die école laïque, ist der Inbegriff für die Neutralität des Staates. ... Die Ecole laïque will allen Kindern denselben, von religiösem Einfluß befreiten, wissenschaftlichen Unterricht zuteil werden lassen, auf diese Weise die Einigung der Nation fördern, zu deren ideologischer Klammer werden und "eine Brüderlichkeit jenseits aller Dogmen verwirklichen helfen". Sie stabilisiert damit bei aller Fortschrittlichkeit den bestehenden Status quo.

Laizität als Emanzipationsbegriff

Für Freinet bildet die Primarschulgesetzgebung der Dritten Republik lediglich einen ersten, wenn auch entscheidenden Schritt innerhalb des Mitte des neunzehnten Jahrhunderts einsetzenden Laizisierungsprozesses. Aufgrund eines verkürzten Laizitätsverständnisses sind Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit bürgerliche Werte geblieben und haben neue ...ismen wie Patriotismus oder Scientismus auf dem Weg über Erziehung und Bildung Einzug in die Schule gehalten und diese erneut dogmatisiert. Eine befreiende Erziehung und Bildung, die das Kind als eigenständiges Wesen ernst nimmt, erfordert für Freinet nicht nur seine Befreiung von einer autoritären Religion, sondern seine umfassende Befreiung von allen entfremdenden und unterdrückenden Bedingungen.

Damit führt Freinet den Begriff Laizität aus seiner dogmatischen Engführung auf die Wahrung religiöser Neutralität bzw. die Schaffung nationaler Einheit und abstrakter Wissenschaftlichkeit heraus. Laizität wird zu einem Emanzipationsbegriff und von Freinet immer wieder neu inhaltlich bestimmt, indem er gesellschaftliche und schulische Entwicklungen daraufhin untersucht, inwieweit sie Freiheit und Selbstbestimmung des Menschen, selbstorganisiertes und kooperatives Arbeiten und Lernen zulassen und ermöglichen. ...

Freinets Kritik an einer autoritären und unterdrückenden Religion; sozialer Ausgrenzung durch Arbeitslosigkeit; unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen; Rassismus; Unterordnung der Erziehung unter die Staatsraison, die Person des Führers, die Idee der Nation, zentrale Planung und Ideologien jeder Art; Verbündung von Industrie und Politik zur Stützung kapitalistischer Produktionsverhältnisse; Faschismus; Krieg und dessen Begleiterscheinungen in den zwanziger/dreißiger Jahren findet nach dem Zweiten Weltkrieg seine Fortsetzung im Einsatz für Frieden und nationale Unabhängigkeit der Völker; in der Verteidigung der weltanschaulichen Neutralität von Unterricht und Schule angesichts zunehmender Reklerikalisierung wie auch angesichts zunehmender Versuche, gesellschaftspolitische Zielsetzungen von außen her in die pädagogische Arbeit hineinzutragen; in der Kritik an einer entmenschlichenden Technik, unkritischem Glauben an den Fortschritt der Wissenschaft einerseits, neokonservativem Aufleben überwunden geglaubter Werte und Traditionen andererseits. ...

 

Laizität wird von Freinet dem Unterricht nicht als bloßes Prinzip von außen vorgegeben, sondern ist zugleich Weg und Ziel des Unterrichts selbst: durch eine Wissenschaftsorientierung vom Kinde aus, durch die Schaffung selbstbildender Arbeitstechniken und Arbeitsmaterialien, durch die Umstrukturierung der Schule in die Arbeitsschule, durch Gestaltung der Schulgemeinde, die zugleich den traditionellen Moralunterricht ablöst, und durch die Entwicklung einer eigenen psycho- pädagogischen Theorie des Lehrens und Lernens.

Verteidigung der Laizität

Rascher Geburtenanstieg, fehlende qualifizierte Lehrer, steigende Schülerzahlen in den Klassen, stark zerstörte Schulbauten, die Notwendigkeit, staatliche Schulklassen in Scheunen, ausrangierten Straßenbahnwagen oder Notbaracken unterbringen zu müssen, und die Tatsache, daß der laizistischen Schule keine hinreichenden Gelder zur Verfügung gestellt werden, führen nach dem Zweiten Weltkrieg dazu, daß viele Eltern sich gezwungen sehen, ihre Kinder in private Schulen zu schicken, unter denen die katholischen Schulen weitaus an der Spitze stehen.

Hierdurch ermutigt, betreiben die Anhänger der Konfessionsschulen im Parlament eine Initiative zugunsten der staatlichen finanziellen Unterstützung der Privatschulen. Trotz gewisser Opposition von seiten der Linken werden daraufhin im Jahr 1951 zwei Gesetze im Parlament durchgesetzt: das Gesetz André Marie vom 21. September 1951, das sich auf das höhere Schulwesen und das Hochschulwesen bezieht und eine Ausdehnung der staatlichen Stipendien auf die privaten, staatlich anerkannten Lehranstalten ermöglicht, und das Gesetz Barangé vom 28. November 1951, das sich auf die nichtstaatlichen Primarschulen Frankreichs bezieht. Die Unterstützung fließt im Rahmen eines Familienunterstützungsgesetzes an die Elternvereinigungen, ist jedoch zur Aufbesserung der Lehrergehälter an den Privatschulen gedacht.

In diesem Wiedererstarken der katholischen Schulen sieht Freinet eine fundamentale Bedrohung der Ecole laïque. Für Freinet ist es die Ecole laïque, die allen Kindern durch einen undogmatischen und wissenschaftlichen Unterricht die gleiche Bildung zukommen lassen und die Einheit Frankreichs schaffen und garantieren helfen soll. Freinet stellt sich bewußt hinter das Schulverständnis der Schulreformer der Dritten Republik, wenn er betont: "Frankreich wird morgen das sein, was die Schule heute aus ihren Kindern macht." Die Unterstützung der katholischen Schulen bedeutet für Freinet eine Rückkehr zur Gesetzgebung der Vichy-Regierung, ist verfassungswidrig, ruft die überholt geglaubten religiösen Streitereien wieder wach und droht das französische Volk zu spalten.

Besonders in einem Moment, in welchem die konfessionellen Schulen mehr und mehr die Techniken Freinets übernehmen, muß für Freinet die Verteidigung der Ecole laïque in erster Linie über diese Schule selbst erfolgen. Die Lehrer, die für eine qualifizierte laizistische Pädagogik arbeiten, stehen für Freinet an der Spitze des über fünfzigjährigen Kampfes für Laizität und Frieden.

Innerhalb der Bewegung Freinets arbeiten Christen, Marxisten, Sozialisten, Anarchisten und Atheisten, Menschen unterschiedlichster Weltanschauungen und Überzeugungen, in einem Geist von Menschlichkeit und Brüderlichkeit zusammen gegen Dogmatismus und Indoktrinierung, gegen Kolonialismus und Krieg und für den Frieden. Freinets Laizitätsverständnis schließt unterschiedliche Weltanschauungen nicht grundsätzlich aus, läßt sie aber auch nicht einfach pluralistisch nebeneinander stehen. Sie werden daran gemessen, ob sie einen Beitrag leisten zur Errichtung einer Gesellschaft sozialer Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, zur Verwirklichung der Rechte des Kindes und einer Pädagogik vom Kinde aus, ob sie der kritischen Vernunft standhalten und die Gründer der laizistischen Schule und deren fundamentale Ziele respektieren.

Laizität und Religion

Ein ausgeprägter Antiklerikalismus, die Verteidigung der Laizität und der Versuch ihrer zeitgemäßen Neuinterpretation bestimmen die Arbeit Freinets. Freinet wendet sich gegen die Religion, wo sie Fragen, Ängste und Hoffnungen der Menschen als Mittel zur Machtausübung und eigenen Machtstabilisierung mißbraucht und die Menschen in einen Herrschaftsapparat einbindet.

 

Der heute vielfach diskutierten Frage, ob nicht die Religion, sondern der Religionsverlust, ein Leben, das keine Religion und keine religiöse Erziehung mehr kennt, in immer größerem Maße sein zerstörerisches Potential entfaltet, trägt Freinet bereits in den dreißiger Jahren durch das Bereitstellen religionskundlicher Arbeitsblätter und Karteikarten Rechnung. Wenn ein ganzer Bereich nationalen kulturellen Erbes sowie religiöse Deutungsangebote auf die Frage nach dem Sein im ganzen in der Gefahr stehen wegzufallen, verliert der Begriff Laizität im Sinne von Laizismus seinen Sinn. Als gesamtgesellschaftliches und unterrichtlich-schulisches Paradigma staatlicher Schulen ist die Religion für die Länder der Aufklärung außer Kraft gesetzt. Ziel der Pädagogik Freinets ist ein aufklärendes, emanzipierendes Lehren und Lernen, das keine weltanschauliche Begründung zuläßt und ihrer nicht bedarf.

Anmerkung: Die obige Schrift ist eine Kurzfassung des Aufsatzes "Freinet als Laizist – Ein Beitrag zum Thema Freinet und Religion aus historischer Sicht" von Dr. Renate Kock, Studienrätin i.H. an der Universität Köln. Der Aufsatz ist abgedruckt in "Fragen und Versuche", Heft 92 Februar 2000, S.5-10. Von derselben Autorin stammt auch der in "Bildung und Erziehung“, Heft April 1996, veröffentlichte Aufsatz "Freinet als Laizist – Der Beitrag Freinets zur Reformpädagogik".

Die nächste Tagung der FREIEN AKADEMIE

Die nächste Wissenschaftliche Tagung der FREIEN AKADEMIE wird vom 9. - 12. Mai 2002 auf Schloß Schney bei Lichtenfels stattfinden. Sie steht unter dem Thema "Humanität zwischen Hoffnung und Illusion". Der Wissenschaftliche Tagungsleiter wird Professor Dr. Franz M. Wuketits sein.

Von Humanität bzw. Menschlichkeit ist viel die Rede: im Alltag, in der Politik, in der Philosophie, in den Religionen ... Aber wie "menschlich" sind wir wirklich? Keine Religion, keine Ideologie vermochte bisher aus dem Menschen ein "wahrhaft humanes" Wesen zu machen. Vielmehr sind selbst im Namen der Menschlichkeit grauenvolle Verbrechen begangen worden. Heilige Kriege gehören keineswegs der Vergangenheit an. In beinahe der Hälfte aller Länder wird nach wie vor die Todesstrafe vollstreckt. Moral entpuppt sich häufig als Doppelmoral. Ist Menschlichkeit also bloß eine Illusion? Sind Menschenrechte bloß eine Erfindung der westlichen Industriegesellschaft, die damit ihre eigenen Interessen durchsetzen will? Muß die Idee der Humanität an unserer "menschlichen Realität" letztlich scheitern? Diese heiklen Fragen werden in etwa acht Vorträgen aus unterschiedlicher Perspektive beleuchtet. Zu den ReferentInnen zählen Mohssen Masarat (Osnabrück), Peter Meyer (Augsburg), Michael Schmidt-Salomon (Butzweiler), Franz M. Wuketits (Wien), Maria Wuketits (Wien) u. a. Zu dieser Tagung werden alle Mitglieder und Interessenten im Frühjahr

2002 eingeladen.

Literatur: Maria und Franz M. Wuketits: Humanität zwischen Hoffnung und Illusion – Warum uns die Evolution einen Strich durch die Rechnung macht. Kreuz-Verlag, Stuttgart 2001.

Nachruf auf Ewald Schäfer

Am 4. Januar 2001 ist Ewald Schäfer in Kiel im 96. Lebensjahr gestorben. Die FREIE AKADEMIE hat damit den letzten noch lebenden der zwanzig Unterzeichner der Akademie-Gründungsurkunde vom 4. April 1956 verloren. Ewald Schäfer wurde am 30. März 1905 in Greifenhagen (Nordhessen) geboren. Zehn Jahre später übersiedelte er mit seinen Eltern nach Danzig, wo er seine Liebe zur Musik entwickelte. An das Studium der Pädagogik mit dem Schwerpunkt Musik schloß sich die Tätigkeit als Dozent der Danziger Hochschule für Lehrerfortbildung an. Nach Kriegsdienst und Kriegsgefangenschaft fand er 1947 seine Frau und die vier Kinder in Schleswig-Holstein wieder. Den Lebensunterhalt der Familie sicherte er zunächst als Tanzmusiker, dann als Musikpädagoge an einer Eutiner

 

Oberschule. Ab 1949 war er jahrzehntelang Leiter des Ostdeutschen Chores Eutin. Daneben trat er als Komponist und Herausgeber von Liederbüchern hervor. 1955 nahm Ewald Schäfer auf der Jugendburg Ludwigstein (Nordhessen) als Freireligiöser an einer Tagung der von Jakob Wilhelm Hauer geleiteten "Arbeitsgemeinschaft für freie Religionsforschung und Philosophie" teil, die 1956 in der FREIEN AKADEMIE aufging. Viele Jahre gestaltete er das musikalische Leben der FREIEN AKADEMIE, vor allem während der Tagungen auf dem Ludwigstein. Für die damaligen Tagungsteilnehmer sind seine musikalische Meisterschaft und seine freundlich-aufmunternde Menschlichkeit unvergeßlich. Die Akademie-Mitgliedschaft hielt er trotz seines hohen Alters bis zuletzt aufrecht. Die FREIE AKADEMIE wird sich an Ewald Schäfer stets mit Dankbarkeit und Ehrerbietung erinnern.

Reinald Eckhardt

Wir begrüßen als neue Mitglieder:

Hans Bendrath, 31582 Nienburg Liselotte Steinbach, 10713 Berlin